Flüchtlinge - Eine Spurensuche im Zürcher Staatsarchiv
Büchner, Lenin, Maggi, Muralt, Orelli, Pestalozzi und Wagner:
Die ersten dieses Namens kamen nicht der Schönheit Zürichs wegen. Sie waren Verfolgte, die ihre Heimat verlassen mussten.
Gelegentlich öffnen Staatsarchive ihre Kellertüren und gewähren interessierten Besuchern Einblick in auserlesene Schätze. Im vierten Kellergeschoss präsentierte uns Dr. Karin Huser, Zürich, am 7. Juni 2016 ausgewählte Dokumente aus den letzten fünf Jahrhunderten zum Themenkreis "Flüchtlinge und Zürich".
Giuseppe Mazzini
(*22.06.1805, +10.03.1872)
Italienischer Freiheitskämpfer
Asylgesuch abgewiesen
Die Vertreibung oder Flucht von religiös Andersdenkenden liegt wohl im Naturell des Menschen. Das von Religionswirren geschüttelte Europa veranlasste Tausende Menschen vom Ende des 15. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts vorübergehend oder für immer eine neue Heimat zu suchen. Schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts verteilten sich Juden aus Spanien in ganz Europa. Jahre später querten christliche Glaubensflüchtlinge aus Italien respektive dem Tessin die Alpen, unter ihnen die Stammväter von zahlreichen altverbürgerten Zürcher Geschlechtern wie die der Muralt, Orelli oder Pestalozzi. An die Zeit der Hugenottenverfolgungen erinnert die in vielen Städten bis heute existierende "Eglise française", so auch in St. Gallen und Zürich. Auslagen der Regierung für diese sogenannten "Exulanten" oder "Refugianten" wurden minutiös festgehalten - Die Lektüre der Ausgabenrechnungen lässt das Genealogenherz höher schlagen, wurden die Familien nicht selten vollständig namentlich aufgeführt.
Büchner, Semper, Wagner waren politische Flüchtlinge aus den deutschen Ländern. Ihnen folgten später solche aus Russland (z.B. Lenin). Sie alle liessen Zürich im 19. Jahrhundert zu einer Art Flüchtlings-Hub Europas werden: Die Regierung Zürichs galt als liberal und kulturell offen. Die Flüchtlinge strömten hierher mit der Hoffnung auf eine sorgenfreie Zukunft im Gepäck.
So gerne die Flüchtlinge in Zürich Asyl beantragten, so wuchs der Druck auf die Zürcher Behörden durch die Regierungen der Herkunftsländer, welche die Auslieferung der Gesuchten verlangten. Politisches Andersdenken war schon damals für die Zürcher Machthaber kein ausreichender Grund für eine Auslieferung. Wenngleich, wie Karin Huser durchblicken liess, es häufig wohl weniger das christliche Gebot der Nächstenliebe war, die Unglücklichen mit offenen Armen zu empfangen. Das sich in einer wirtschaftlichen Aufbruchs- und Expansionsphase befindende Zürich hatte eine durchaus pragmatische "Verwendung" für die gebildeten und kritischen Köpfe aus dem Ausland, hatte es doch 1832 gerade die Uni eröffnet. Einige der Verfolgten erhielten neben der Niederlassungsbewilligung gleich eine Stelle als Privatdozent an der Uni oben drauf.
Doch längst nicht immer und nicht jeder Flüchtling war in der Limmatstadt erwünscht. Die Regierungsratsbeschlüsse erzählen davon, wie den Asylanten die Weiterreise nahe gelegt wurde, indem man ihnen grosszügig einen Pass ausstellte. Die Zünfte erkannten in den Migranten bedrohliche Konkurrenz, die sie sich vom Leibe halten wussten, indem sie massive Restriktionen für die Gewerbsausübung durchsetzten. Oft fanden Aufnahmen auch in Absprache mit anderen Orten statt - oder auch nicht. Anhand des Sonderfalls Giuseppe Mazzini zeigte die Referentin auf, wie der italienische Freiheitskämpfer von den meisten eidgenössischen Orten als persona non grata zurückgewiesen wurde, bis er 1836 endlich in Grenchen SO Aufnahme fand. Doch das Glück währte nur kurz. Auf Druck der umliegenden Orte machte die Solothurner Regierung das Aufenthaltsrecht nach bereits einem halben Jahr rückgängig. Die tatsächlichen Gründe für oder gegen eine Aufnahme bleiben in den meisten Fällen unklar.
Einige gaben sich den widrigen Umständen hin und erarbeiteten sich die Anerkennung in der zürcherischen Gesellschaft mühsam. Immerhin war es ihren Nachkommen, den "Secondos" oder vielleicht auch "Terzos" jener Zeit einfacher, die Bürgerrechte zu erhalten. Diese waren vertraut mit Sprache und Sitten - so wie Julius Maggi. Sein Vater Michele kam Anfang 19. Jahrhundert als Flüchtling in die Schweiz und arbeitete sich hoch, heiratete eine Lehrertochter und gründete eine Familie. Und immer aber hatten es Gebildete und Betuchte einfacher, sich in Zürich niederzulassen als andere. Dinge verändern sich kaum über die Zeit. Sind Parallelen zu Erichs Kästners "Entwicklung der Menschheit" rein zufällig?
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